Raina Bodyk

Die Lautsprecherboxen dröhnen. Über 30.000 Zuschauer drängen sich auf den Tribünen: Currywurstkauer, Dosenbiertrinker, Fahnenschwenker, Bauchladenträger. Bemalte Gesichter, lange Schals und T-Shirts in den Vereinsfarben. Schrille Pfiffe. Getöse. Gesänge.

 

„Haaallooo Faaans! Was für eine Bombenstimmung bei euch! Seid ihr scharf? Seid ihr heiß? Haut rein, Leute! Feuert unsere Spieler an, lasst sie brennen für den Sieg. Jaaah!“

 

Vergnügt mit den Beinen baumelt hockt der Geist des Fußballs auf dem obersten Geländer des Stadions. Neben ihm sitzt etwas übellaunig sein kulturell inspiriertes Gegenstück.

„Na, du Geist der Literatur, wie gefällt es dir hier? Wollen wir heute doch mal sehen, wer von uns beiden die größere Macht und den größeren Einfluss hat. Ich setze auf mich! Auch wenn ich dich erst jetzt – nach Jahrzehnten – überzeugen konnte, es freut mich, dass du mich begleitest. Du hast richtig Glück! Schon in den ersten Minuten durftest du ein Tor für Köln miterleben. Es wird dir heute tausendprozentig gefallen. Du wirst meinem Zauber erliegen!“

Davon ist Poeta so gar nicht überzeugt: „Denkst du! ABER: erstens: es heißt Geistin! Ich bin eine Frau und möchte als solche respektiert werden! Hast du nie von Alice Schwarzer gehört?!“

„Ist das deine Friseuse?“

„Friseurin, wenn schon. NEIN! Es macht einen Unterschied, ob du Friseuse sagst oder …“

„Ist ja schon gut! Ich kann deine Sprüche vorwärts und rückwärts beten!“, unterbricht Spikey sie.

„Und zweitens, um darauf zurück zu kommen, ich bereue mein Mitkommen jetzt schon! Zweiundzwanzig Männer benehmen sich wie die Kinder, rennen alle wie verrückt hinter einem blöden Ball her. Sehr interessant, wirklich!“

„Puuh, der Spruch ist ja älter als Methusalem! Hast du das nötig – bei deinem intellektuellen Niveau?“

Damit kann er sie nicht provozieren. Doch plötzlich wird sie misstrauisch. Mit stechenden Augen starrt sie ihn argwöhnisch an:

„Du hast mich doch nicht etwa mit einer magischen Hexerei reingelegt? Als ich neulich vergessen habe, meinen Schutzzauber zu beschwören …?“

„Nein! So etwas würde ich nie tun. Sonst soll mich doch der Geist der Sprachlosigkeit holen – und du weißt, wie gern ich rede. Aber stopp, jetzt wird’s spannend! Guck, Rummy täuscht, trickst die zwei aus Chelsea aus und … – Mist, Latte!“

 

“PFOSTEN! Er hat die Kugel so schön genommen und dann vergibt er kläglich diese einmalige Chance. Das wäre das zweite Tor geworden. Das kannst du doch besser, Mensch. RUMMY! RUMMY!“

 

Während das Stadion frenetisch mitbrüllt, schüttelt Poeta ihr Haupt: „Ich kriege es nicht in meinen Kopf. Eine Nation, die einen William Shakespeare hervorgebracht hat, liebt dieses rohe Spiel?“

„Hat dein lieber Willi nicht gesagt: ‚Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden als Eure Schulweisheit sich träumt‘?“, grinst Spikey – zugegebenerweise etwas hämisch.

 

„Neeiiin! Foul!“ Spikey kreischt entsetzt auf, genauso wie die Fans, die von ihren Sitzen springen. Poeta zuckt erschreckt zusammen.

 

„Fouuul, Fouuul. Habt ihr das gesehen? Der Chelsea-Man hat unseren Stürmer angerempelt. Ganz klare Kiste, überhaupt keine Diskussion. Ah, der Schiri zieht die gelbe Karte und gibt Elfmeter. Eine herbe Klatsche! Klott scheint schwer angeschlagen. Wird er ausgetauscht? – Nein, er kommt langsam wieder hoch. Gottseidank, er steht wieder.“

 

Buhrufe und Pfiffe von allen Seiten. Ein etwas bösartiges Kichern irritiert Spikey. Er schaut seine Begleiterin argwöhnisch an.

„He, du Geistin, du hast doch nicht etwa …?“

Sie setzt ihr unschuldigstes Gesicht auf und säuselt: „Ach, dem fehlt doch nichts. Der spielt doch bloß den sterbenden Schwan. Hast du nicht bemerkt, wie niedergeschmettert die armen Engländer aussahen? Sie haben doch schon ein Tor kassiert. Hätte ich nichts unternommen, hätten sie jetzt schon wieder eins. Sie haben mir total leidgetan. Alle wären über diesen hübschen Torwart hergefallen.“

Sprachlos starrt ihr Freund sie an: „Bist du übergeschnappt? Es geht nicht um Schönheit! Die eiserne Regel im Sport heißt Fairness. Der Bessere gewinnt. Bei deinem dämlichen Emanzending verlangst du doch auch immer Gerechtigkeit!“

„Ich wasche, wie Lady Macbeth, meine Hände in Unschuld!“

„Soviel ich weiß, hat sie gejammert: ‘Wollen diese Hände niemals sauber werden?‘“

„Rechthaberisch bis du wohl gar nicht? Aber ich verspreche jetzt Wohlverhalten.“

 

„Oooh! Versemmelt! Was ist mit Beck los? Er, der sonst so coole und elegante Tänzer am Ball, verdrischt den Elfmeter. Vergibt kläglich diese Chance. Die Kugel ist bei Chelsea. Pass von Strong. Die Engländer sind offensichtlich endlich im Angriffsmodus angekommen.
Yeah, Jock lässt sich von Steiger den Ball abjagen. Der Kölner übernimmt, spielt geradezu übermütig mit dem Ei, dribbelt es am gegnerischen Außenverteidiger vorbei … – Aber was ist das
? Was ist da los?“

 

Spikey bleibt der Mund offenstehen. Was ficht den Mann an? Es schien ein perfekter Fallrückzieher zu werden, da kippt er nach vorn, lässt den Ball fallen … Zischen, Johlen. Unmut und Frust unter den verärgerten Fans.

„Poeta! Hast du etwas mit diesem Desaster zu tun!?“

„Ne-ein. – Mmh, ja!“ Ganz kläglich gesteht sie: „Hast du nicht gesehen, dass er sein Gleichgewicht verloren hat? Der wäre doch auf den Rücken gefallen, hätte sich was brechen können!“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?! Das hätte eine Sternstunde für alle Fans werden können. So ein Schuss, aus dieser Position, das ist … Kapierst du eigentlich überhaupt nichts?“ Dem Geist fehlen die Worte.

„Tu-ut mir leid. Ich wollte wirklich nur Schlimmeres verhindern. Aber ich mach’s wieder gut.“

Poeta schnipst mit dem Finger, vollzieht tief konzentriert eines ihrer schwersten Zauberkunststücke und dreht die Zeit um zwei Minuten zurück.

„Wenn du ab jetzt auch nur noch ein einziges Mal deine Kräfte anwendest, bist du bis in alle Ewigkeit für mich gestorben!“

Die Geistin nickt nur, merkt selbst, dass sie da wohl etwas missverstanden hat.

 

„Yeah, Jock lässt sich von Köln den Ball abjagen. Steiger packt jetzt den Hammer aus, übernimmt, spielt mit dem Ei, dribbelt es am gegnerischen Außenverteidiger vorbei und – Fallrückzieher! Tooooor! Tooooor für Köööln! Welche Lässigkeit! Welche Leichtigkeit! Ein Magier par excellence! Ein Traumtörchen! Das ist sooo geil, ich dreh durch! Kööölleee!“

 

„Tor, Tor!“

Spikey zuckt verdutzt zusammen und schielt verstohlen nach links. Seine Begleitung scheint von diesem trickreichen Spielzug tatsächlich schwer beeindruckt, nachdem sie ihn nun begriffen hat.

Danach versinkt sie in tiefes Schweigen. Sie starrt mit gerunzelter Stirn konzentriert aufs Feld, bewegt leise ihre Lippen, zeichnet mit dem Finger Kurven und Geraden in die Luft, nickt hin und wieder.

Als sie sich wieder regt, blickt sie Spikey nachdenklich an: „Ich glaube, langsam verstehe ich. Die laufen nicht einfach so rum. Das hat System.“

„Das ‚System‘ nennt man Taktik.“

„Genau! Die einen verteidigen ihr Tor und spielen den anderen den Ball zu. Die müssen superschnell entscheiden, welcher Spieler den Ball übernehmen kann und ihn genau anzielen.“

„Exactement! Langsam hast du’s. Der Trainer muss genau wissen, wer welche Position am besten ausfüllen kann, das Zusammenspiel muss perfekt klappen. Nur dann, um mit deinem geliebten Goethe zu sprechen, kann er sich über den Gegner mokieren: ‚Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!‘ Das ist höhere Mathematik! Wie beim Schach.“

„Typisch, dass du gerade dieses Zitat kennst!“

„Unterschätz mich nicht. Vielleicht kenne ich ja noch andere.“

 

In der Halbzeitpause löchert Poeta ihren Begleiter mit tausend Fragen, die er stillvergnügt zu beantworten versucht.

 

In der zweiten Hälfte kreischt Poeta so begeistert wie die anderen. Reißt die Arme hoch, wenn es heißt: „Und dann die Hände zum Himmel …“

Spikey grinst. Er wusste es! Mannomann! Ein Temperament hat die Kleine!

           

„Chelsea dreht noch einmal ordentlich auf. Der Trainer hat seinen Mannen in der Pause anscheinend die Hölle heiß gemacht. Vorbei die Defensivhaltung.
Striker sprintet, schlägt den Ball weit hinter die völlig entblößte Kölner Verteidigung. Beck will dazwischenspritzen, aber der Gegner schlägt einen schnellen Haken. Beck läuft ins Leere. Eijeijei, der Kölner Torwart zögert eine Sekunde zu lang. So was darf nicht passieren! Der Engländer hämmert die Kugel von der Strafraumkante aufs linke, kurze Eck. TOR für Chelsea! Es steht 2 : 1 für Köln.“

 

Poeta sieht ganz geknickt aus.

„Aha, langweilig scheint es ihr ja nicht mehr zu sein!“, lästert Spikey in sich hinein.

 

„Freunde! Fans! Wie hat es Beckenbauer so schön ausgedrückt: ‚Es gibt nur eine Möglichkeit: Sieg, Niederlage oder Unentschieden.‘ Wir wollen den SIEG! Gebt alles für unsere Jungs. Jetzt drehen wir richtig auf. Zeigt’s dem Gegner. Gebt Gas, gebt alles. Wir machen ihnen Feuer unter dem Hintern. We are the champiiooons!“

 

Auf den Tribünen herrscht Ausnahmezustand. Pfeifen, Tröten, Singen, Sprechchöre.  Die Zuschauer geben alles. Nur kein Ausgleichstor! Aber die Luft ist raus bei den Spielern. Die Rheinländer wollen nur noch die Führung über die Zeit retten. 

Der Schlusspfiff.

 

            “Und damit hat Köln verdient gewooonnneeen! “

 

„Mein Täubchen, ich habe gesiegt!“, triumphiert Spikey.

„Das sehe ich aber ganz anders, teurer Freund!“

„Hä?!“

Ich habe gewonnen. Hier handelt es sich um reine Kunst! Was sich da auf dem Platz abspielt, ist ein Drama, stellenweise gar eine griechische Tragödie. Es kann zur Komödie oder zum fantastischen Märchen werden. Dialoge satt, halt nur zwischen Fuß und Ball. Dazu strukturierter Aufbau, Spannung pur, Höhepunkte, Emotionen vom Feinsten. Dann die ganz großen Momente, wo das Spiel reine Poesie ist. Denk doch nur an den großartigen Fallrückzieher vorhin.“

„An den Fallrück… Oh!“

„Du solltest dich klugerweise Tucholsky anschließen, der sagt: ‚Toleranz ist der Verdacht, dass der andere recht hat.‘ Also – ich!“

„Typisch Frau, immer das letzte Wort haben wollen! Du hast aber hoffentlich nichts dagegen, wenn ich Heinz Ehrhardt für mich antworten lasse: ‚Frauen sind die Juwelen der Schöpfung. Man muss sie mit Fassung tragen!‘“